«Man hat immer eine Chance»

Er entscheidet, ob und wann man den Fahrausweis zurückbekommt: Verkehrsmediziner Matthias Pfäffli über nervöse Klienten, entlarvende Haartests und den Ablauf einer «verkehrsmedizinischen Begutachtung Stufe 4».

 

Bilder: stock.adobe.com und Porträtfoto Matthias Pfäffli

«Man hat immer eine Chance»

Herr Pfäffli, von Vorfreude kann wohl kaum die Rede sein, wenn man einen Termin bei Ihnen hat …

(lacht) Dafür zeigen sich die meisten unserer Klienten positiv überrascht, wenn sie hier wieder rausgehen.

Obwohl Sie über ihr Schicksal bestimmen, respektive darüber, ob und wann sie ihren Führerausweis wieder bekommen?

Sie begreifen, dass wir keine Amtsstelle sind, sondern eine unabhängige medizinische Untersuchungsstelle, die ihren Gesundheitszustand einordnet. Und dass wir nicht willkürlich über ihre Fahreignung entscheiden, sondern uns an gesetzliche Vorgaben halten müssen.

Die meisten dürften ziemlich nervös sein, wenn Sie reinkommen.

Darum beginnen wir das rund einstündige Treffen auch nicht mit der Untersuchung oder gar mit psychologischen Tests, sondern mit einem einfachen Gespräch.

Worüber reden Sie?

Oft erst mal über Privates, um Nervosität abzubauen. Über das Hobby, den neuen Traktor oder das letzte YB-Spiel. Dann kommen wir auf die Gesundheit des Klienten zu sprechen, wobei wir auf das Thema fokussieren, wegen dem er da ist, also Alkohol, Drogen, Medikamente oder eine Erkrankung. Wir tasten auch soziale Aspekte ab um zu schauen, wie die Leute integriert sind, was für Ressourcen sie haben.

Mit welchen Fragen muss ich rechnen?

Fragen zu Vorerkrankungen, zu den Medikamenten, die die Person einnimmt, zum Alkohol- und Drogenkonsum. Aber auch: Was wollen Sie unternehmen, damit sich das Vorgefallene nicht wiederholt? Waren Sie schon einmal in einer Entzugsklinik oder bei einem Psychiater? Natürlich gibt es viele Klienten, die etwas verheimlichen wollen.

Was denken Sie: Fallen Sie oft auf Lügen herein?

Unsere Klienten wissen, dass wir ihre Akte vom Strassenverkehrsamt studiert haben. Und dass standardmässig eine Haarprobe genommen und auf ihr mögliches Substanzproblem untersucht wird. Wir wissen also ziemlich genau über ihre Thematik Bescheid. Heute lohnt sich leugnen nicht mehr. Das schmälert bloss die Chancen, den Führerausweis bald zurückbekommen.

Was können Sie denn aus einer Haarprobe lesen? Wie viel Gläser Wein ich schon am Morgen trinke? Ob ich täglich Kokain konsumiere?

So genau geht’s dann doch nicht. Aber wir sehen verlässlich, ob eine Substanz selten, regelmässig oder oft konsumiert wird. Bei Drogen kommt erschwerend dazu, dass sie verboten sind.

Dürfen Sie mich einfach so auf Substanzen testen?

Nein, wir brauchen Ihre ausdrückliche Erlaubnis. Und es gibt tatsächlich Leute, die sagen: Mir ist der Alkohol oder das Kiffen wichtiger als das Autofahren. Die gehen dann wieder.

Was ist der wichtigste Punkt, den Sie während der Untersuchung abchecken?

Wesentlich ist, dass jemand einsichtig ist. Dass er sein Problem reflektiert hat und motiviert ist, es anzugehen.

Gerade Menschen mit einer Sucht sind Profis im Selbstbetrug. Woran erkennen Sie meine Ehrlichkeit?

Wenn Sie einsichtig sind, haben Sie uns vielleicht bereits durch Ihren Hausarzt Ihre Krankenakte zukommen lassen und die Bestätigung, dass sie ihn monatlich aufsuchen. Sie haben möglicherweise ein Abo des Verkehrsverbundes gelöst und einen Plan, wie es weitergeht mit Ihrer Thematik. Ganz wichtig: Ihre Aussagen sollten zur Haaranalyse passen.

Und dann geht’s zum Test. Was passiert da?

Zuerst werden Sie untersucht, ähnlich wie bei einer Standarduntersuchung beim Hausarzt. Reflexe prüfen, Blutdruck messen, Herz- und Lungentöne abhören. Wir messen auch die Sehschärfe und das Gesichtsfeld. Auch das Klischee gehört dazu: mit dem Zeigefinger die Nasenspitze berühren und geradeaus laufen.

Wann darf ich endlich in den Fahrsimulator?

Da muss ich Sie enttäuschen, einen solchen gibt es nicht. Es kann sein, dass Sie einen neuropsychologischen Test am Bildschirm machen müssen. Dabei werden Ihnen unter anderem in kurzen Sequenzen Bilder von Verkehrssituationen gezeigt, und Sie müssen ankreuzen, an welche Details Sie sich erinnern.

Wie schwierig ist es letztlich, meinen Führerausweis zurückzubekommen?

Nicht sehr schwierig. Ich denke, das Strassenverkehrsgesetz ist recht grosszügig ausgelegt. Wenn Sie sich um Besserung bemühen, kooperativ sind und anständig, kein bedeutendes medizinisches Problem haben und auch nicht schon zum wiederholten Mal zu uns kommen, sind ihre Chancen intakt. Es kann allerdings gut sein, dass wir zwar die Fahreignung bejahen, aber sichergehen wollen und Sie innerhalb eines Jahres zum Haartest aufbieten.

Gibt es auch hoffnungslose Fälle?

Sagen wir es so: Wir haben unsere Stammkunden. Und trotzdem: Selbst wenn wir entscheiden, dass jemand nicht fahrgeeignet ist, müssen wir stets auch ausführen, was es bräuchte, damit er es wieder wird. Man hat also immer eine Chance, den Führerausweis irgendwann wieder zurückzubekommen.

Dr. med. Matthias Pfäffli, Facharzt Rechtsmedizin FMH und Verkehrsmediziner SGRM
*Dr. med. Matthias Pfäffli ist Facharzt Rechtsmedizin FMH und Verkehrsmediziner SGRM. Seit 2010 leitet er die Abteilung Verkehrsmedizin am Institut für Rechtsmedizin in Bern.

 

Die 4 Stufen der verkehrsmedizinischen Begutachtung

+ Stufe 1: Seniorenuntersuchung beim Hausarzt

+ Stufe 2: Periodische Untersuchung von Berufschauffeuren

+ Stufe 3: komplexere Fälle, etwa nach Meldung einer IV-Stelle

+ Stufe 4: alle verkehrsmedizinische Untersuchungen, vor allem auch in Zusammenhang mit Substanzen

 

So bereiten Sie sich auf eine verkehrsmedizinische Untersuchung Stufe 4 vor: 

  • Reflektieren Sie das Verkehrsdelikt oder Ihre Substanzkonsumgewohnheiten selbstkritisch.
  • Bei Verdacht auf das Vorliegen einer medizinischen Abhängigkeitsproblematik empfehlen wir das Führen eines «Konsumtagebuchs».
  • Führen Sie bei Ihrem Hausarzt oder Spezialarzt eine Standortbestimmung durch; er wird Sie in Fällen von Fahren unter Cannabiseinfluss auch über eventuell notwendige Urinprobenkontrollen aufklären.
  • Besteht eine verkehrsrelevante Abhängigkeitsproblematik klären Sie ab, welche Lernprogramme bereits vor der Untersuchung in Angriff genommen werden können (z.B. Lernprogramm Beratungsstelle für Unfallverhütung).
  • Stellen Sie den Konsum sämtlicher verkehrsrelevanter Substanzen per sofort ein (Drogen inkl. CBD, Alkohol inkl. alkoholfreies Bier, nicht verschriebene Medikamente)
  • Achten Sie auch auf ihre physischen Zustand, d.h. essen, trinken und schlafen Sie genügend und verzichten Sie auf Beruhigungsmittel.
  • Sollten Sie Probleme mit der deutschen Sprache haben, sollten Sie dies frühzeitig bekannt geben, damit ein Dolmetscher organisiert werden kann.
  • Kontaktieren Sie Ihre Rechtsschutzversicherung und besprechen Sie mit einem Verkehrsexperten die nächsten Schritte.

 

Im Beitrag «Eine Aussage mit Folgen» erfahren Sie, warum sich unsere Kundin nach einem Selbstunfall einer verkehrsmedizinischen Begutachtung Stufe 4 unterziehen musste.  

 

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